Selektiver Mutismus bei Kindern: Spezialfall Mehrsprachigkeit

Gastbeitrag by Niloufar Jamali, 06.01.25

selektiver Mutismus mehrsprachigkeit

Einleitung

Wenn Kinder mit einer neuen Sprache in intensiven Kontakt kommen – etwa durch den Eintritt in den Kindergarten oder nach einem Umzug ins Ausland – kann es durchaus vorkommen, dass sie in diesem neuen sprachlichen Kontext zunächst überhaupt nicht sprechen. Ob und wie lange diese Phase anhält, hängt von der Persönlichkeit des Kindes, seinem Alter und weiteren Rahmenbedingungen ab. Doch wann wird aus einer Schweigphase ein Anlass zur Sorge? Wie lässt sich eine „normale", vorübergehende Schweigphase von selektivem Mutismus unterscheiden?

In ihrem Gastbeitrag erklärt NiloufarJamali, Spezialisitin im Gebiet Selektiver Mutismus, was selektiver Mutismus ist, welche Anzeichen darauf hindeuten und wie Eltern, pädagogische Fachkräfte sowie Lehrkräfte damit umgehen können und sollten. 

Viel Freude beim Lesen!

Dr. Adeline Hurmaci

Was ist selektiver Mutismus?

Selektiver Mutismus ist eine klassifizierte Angst- und Kommunkationsstörung und beschreibt die Schwierigkeit in bestimmten Situationen und/oder mit bestimmten Personen zu sprechen. Mit dem selektiven Mutismus soll deutlich gemacht werden, dass das Schweigen nicht freiwillig erfolgt. Vielmehr bezieht sich die Bezeichnung „selektiv“ auf die Situation und den Personenkreis, in dem das Schweigen stattfindet. Meist fällt der Mutismus im Kindergartenalter auf. Aber auch Jugendliche u. Erwachsene können an Mutismus leiden, wenn dieser nicht behandelt wurde.

Ursachen

Bei der Entstehung eines Mutismus geht man von einem multifaktoriellen Bedingungsgefüge aus. Aktuelle Erklärungsmodelle ziehen folgendes in Betracht:

  • Genetische Disposition
  • Prä-, peri-, postnatale Entwicklungsstörungen
  • Stresstheoretische Problembewältigungsstrategien
  • Psychiatrische Grunderkrankungen (in der Familie)
  • Lerntheoretische Konditionierungsprozessse (aufrechterhaltender Faktor)
  • Milieutheoretische Einflüsse

Anzeichen für Mutismus bei Kindern

  • Das altersgerechte Sprachverständnis ist vorhanden.
  • Es liegt keine tiefgreifende Entwicklungsstörung vor.
  • Das kommunikative Verhalten verändert sich deutlich – abhängig von der aktuellen Situation.
  • Bei bestimmten Stress-Situationen ist das Schweigen vorhersehbar.

Leitlinien

  • Reichen Sprachverständnis und Produktion für eine soziale Kommunikation aus?
  • Das Schweigen dauert bereits länger als einen Monat an und bezieht sich nicht auf den ersten Monat nach Kita-/Schuleintritt.
  • Es wird in bestimmten Situationen und/oder mit bestimmten Personen gesprochen?
  • Gibt es eine Voraussagbarkeit des Schweigens?
  • Lassen sich Situationen nennen, die das kommunikative Verhalten feststellen? Hier der Sprechende da der Schweigende?

Hilfreiche Beobachtungen

  • Reagiert der Betroffene angemessen und altersgerecht auf Anweisungen?
  • Werden nonverbale Mittel wie zeigen, nicken, Kopfschütteln beobachtet?
  • In welcher Weise, mit wem, wann kommuniziert der Betroffene?
  • Kann Blickkontakt gehalten werden? Wie lange? Mit wem?
  • Was bewirkt der Betroffene mit dem Schweigen?
  • Was kann der Betroffene besonders gut? Wo sind die Ressourcen?
  • Hat der Betroffene bereits Lautäußerungen gezeigt? Wann, mit wem? In welcher Situation?
  • Können ähnliche Situationen hergestellt werden?

Komorbidität (einige Beispiele)

Selektiver Mutismus wird auch häufig von weiteren eigenständigen Krankheitsbildern begleitet, wie z.B. durch:

  • Sozialangst: Die dauerhafte Angst vor sozialen Begegnungen mit anderen Menschen und vor allem vor der Bewertung durch andere.
  • Psychische Störungen: Trennungsangst, Schlaf- und Essstörungen, Enuresis, Enkopresis.
  • Sprachentwicklungsstörungen: Hilflosigkeit in sprachlichen Anforderungssituationen ist häufig auf Sprachentwicklungsstörungen zurückzuführen (vgl. Schoor 2001).

Was kann ich als Lehrer/in und Erzieher/in machen?

  • Empfehlung einer sprachtherapeutischen Untersuchung
  • Eine Heilmittelverordnung ist nötig
  • Zusammenarbeit mit den Fachleuten, die sich mit dem Störungsbild auskennen
  • Sich über das Störungsbild informieren (lassen)
  • Dem Betroffenen mitteilen, dass ihm geholfen werden kann
  • Keinen Druck ausüben
  • Eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Lehrkräften, Eltern, Psychotherapeuten und anderen Fachdisziplinen ist empfehlenswert.

Wichtig zu betonen ist, dass das mutistische Verhalten nicht mit Absicht erfolgt und auch nicht persönlich oder als Verweigerung gesehen werden sollte. Die Betroffenen haben meist einen hohen Leidensdruck.

Weitere typische Beobachtungskriterien:

  • Es zeigt sich keine Entwicklung Richtung Sprechen.
  • Das Schweigen hält sich eisern.
  • Es wird jemand als Sprachrohr eingesetzt, der für den Betroffenen spricht.
  • Auch beim Spielen wird geschwiegen.
  • Es können andere Verhaltensauffälligkeiten, soziale Risikofaktoren beobachtet werden.
  • Durch Berichte der Eltern zeigt sich ein Unterschied zwischen dem Verhalten zu Hause und dem in den Einrichtungen oder außerhalb des häuslichen Umfeldes.

Das Bild des Mutismus kann facettenreich sein. So können einige nonverbale Mittel einsetzen, wie z.B. Nicken, Kopfschütteln, anderen wiederum ist dies nicht möglich, da sie sehr versteift sein können in ihrer Körperhaltung. Die Symptomatik kann beim einzelnen Betroffenen variieren. Neben dem Kardinalsymptom in Form des Schweigens: Das Gefühl des Verlassenseins, der Hilflosigkeit, der Gehemmtheit, der Scham, der Minderwertigkeit und der kommunikativen Überforderung können diese Situationen bedingen. Des Weiteren ist das gesamte Ausdrucksverhalten selektiv mutistischer Kinder stark beeinträchtigt. Wenn ihr Nichtsprechen thematisiert wird oder sie darauf angesprochen werden, ist ihr Blick meist gesenkt, ihr Körper oft vom Gesprächspartner abgewandt und ihre Körperhaltung und Mimik erstarren (freezing). Es fehlen den Kindern auch häufig lautliche Äußerungen wie z.B. beim Lachen, Weinen, Husten und sie geben z.T. auch keine Schmerzlaute von sich.

Wichtig ist zu erwähnen, dass Mutismus zu den überwindbaren Störungsbildern gehört. Je früher er erkannt und spezifisch therapiert wird, desto besser sind die Prognosen. Denn unbehandelt können sich komorbide Störungen entwickeln.

Behandlung

Eine Aufklärung über den Mutismus ist sehr bedeutsam, denn noch immer herrscht viel Missverständnis und Unkenntnis darüber. Es hilft so vielen Familien und Betroffenen, wenn sie wissen, was los ist und dass sie keine Schuld tragen. Eine spezifische Behandlung klärt auf und berät auch hinsichtlich der aufrechterhaltenden Faktoren (z.B. Sprachtherapie/ Logopädie). Die SRMT-Stuttgarter Rahmenempfehlungen zur Mutismus-Therapie beispielsweise ermöglicht Eltern, Betroffenen und Angehörigen eine Übersicht über Therapieempfehlungen einer Mutismus-behandlung. Eine Zusammenarbeit mit den Eltern, Erziehern/innen, Pädagogen/innen, Lehrkräften und anderen involvierten Personen ist essentiell. Eine mutismusspezifische Therapie kann auf Therapeutennetzwerken in Wohnortnähe (z.B. über Therapeutennetzwerke wie www.mutismus.de oder www.selektiver-mutismus.de) gefunden werden.

Mutistische Kinder begegnen dem Therapeuten oft mit ambivalenten Gefühlen, wie Vertrautheit und Fremdheit sowie Distanz und Nähe. Daher ist für diese Kinder ein aufbauendes, stabiles, strukturgebendes Vorgehen unerlässlich. Rituale und Markierungen von Übergängen und besonderen Leistungsabschnitten dienen dazu, Handlungsabfolge zu gliedern und vermitteln dem Kind Sicherheit, sodass das Gefühl der Willkürlichkeit der Maßnahmen verhindert wird.

Folgende Elemente sind u.a. in der Behandlung wichtig:

  • Gemeinsame Verbindlichkeit und gemeinsames Aushandeln von progressiven Entscheidungen (Möglichkeit der Eigenwirksamkeit, Kind erfährt eigene Wirkung positiv)
  • Schrittweiser Abbau der Sprachgrenze (z.B. durch Hierarchisierung von Ort, Sprechweise und Personen)
  • Neugier und Spannungserzeugung (Motivation stärken)
  • Unterstellung einer positiven Entwicklung (Prinzip der Ich-Stärkung in Richtung Suggestion zur Autosuggestion)
  • Scaffolding-Prinzip (gerüstbauendes Verhalten), entwicklungsproximale Förderung (in die nächste Entwicklungsstufe führend)
  • Zone der nächsten Entwicklung (Anforderungen folgen dem nächsten Entwicklungsschritt, um Frustration oder Resignation entgegenzuwirken)

Selektiver Mutismus und Mehrsprachigkeit: Welche Spezifizitäten?

Zusätzlich bei bi- oder multilingualen Kindern wird geschaut, dass sich das Kind in der z.B. deutschen Sprache wohler fühlt. Mit entsprechenden sprachtherapeutischen Elementen wird die Interaktion in der Sprache gefördert. Die Deutschkenntnisse sollten soweit vorhanden sein, dass eine soziale Kommunikation erfolgen könnte. „Die Unfähigkeit zu sprechen ist nicht durch fehlende Kenntnisse der gesprochenen Sprache bedingt, die in der sozialen Situation benötigt wird oder dadurch, dass der Betroffene sich in dieser Sprache nicht wohlfühlt.“ (Saß et al. 1998)

Wenn z.B. ein Kind das erste Mal mit der deutschen Sprache in Berührung kommt, es nach und nach die Sprache lernt und weiterhin nicht interagiert, sollte genauer geschaut werden. Ein mehrsprachiges Kind kann nur in der Erstsprache (Muttersprache), nur in der Zweitsprache (Umgebungssprache) oder auch in beiden Sprachen schweigen. Wichtig zu betonen ist, dass das Bedingungsgefüge beleuchtet wird. Denn, wenn Kinder zu Beginn ihres Zweitspracherwerbs in der neuen Sprache nicht so schnell überall und mit allen sprechen, ist dies zunächst verständlich. Bleibt das Schweigen jedoch über ca. sechs Monate in der Sprache hinaus bestehen, kann das in Zusammenhang mit weiteren Faktoren auf einen selektiven Mutismus  hindeuten (ansonsten gilt als eines der Diagnostikkriterien, dass das Schweigen mindestens einen Monat andauert und nicht auf den ersten Monat nach Kita-/Schuleintritt beschränkt ist, s.o.).

Auch sinnvoll ist, zu eruieren, ob sich die Eltern mit der Kultur und Sprache des Landes wohl fühlen. Hier kann ebenfalls Unterstützung erfolgen, um die Teilhabe bestmöglich gestalten zu können.

Die Studienlage, warum mehrsprachig aufwachsende Kinder eine viermal höhere Wahrscheinlichkeit von Mutismus haben, ist bislang nur wenig erforscht. Die Mehrsprachigkeit wird nicht als alleinige Ursache betrachtet. Hinweise der Vulnerabilität können sein:

  • Sprachliche Unsicherheiten in Bezug auf den Zweitspracherwerb und soziale Ängste
  • multikulturelle Welt, in der das Kind aufwächst bzw. der Umgang der Eltern mit den verschiedenen Kulturen. Diese haben Einfluss auf die sprachlich-kommunikative und sozial-emotionale Entwicklung (Studie A. Starke, 2014)

Schlusswort

Mir ist es eine Herzensangelegenheit für den Umgang mit dem selektiven Mutismus und für das Störungsbild zu sensibilisieren, damit es möglichst viele Menschen erreicht. Der selektive Mutismus kann überwunden werden. Mutismus muss kein Schicksal sein.

Quellen

Hartmann, B. (Hrsg.) (2013): Gesichter des Schweigens. Die Systemische Mutismus-Therapie/ SYMUT als Therapiealternative. Idstein: Schulz-Kirchner Verlag.
 
Katz-Bernstein, N. (2019): Selektiver Mutismus bei Kindern. Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie. München: Ernst Reinhardt.
 
Saß, H.; Wittchen, H.U.; Zaudig, M. (1998): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychiatrischer Störungen. Göttingen: Hogrefe, 154-156.
 
Starke, Anja (2014): Selektiver Mutismus bei mehrsprachigen Kindern - Eine Längsschnittstudie zum Einfluss kindlicher Ängste, Sprachkompetenzen und elterlicher Akkulturation auf die Entwicklung des Schweigens. Dissertation.

 

 

Autorin:

Niloufar Jamali, 

Rehabilitationspädagogin (BA, Universität Dortmund)
Akademische Sprachtherapeutin
Mutismusdozentin
wingwave®-Coach 
Reflexintegrationstrainerin gem. RIT 
Fachberaterin für Hochsensibilität
Website und Kontakt: https://www.winmut.de/

 

 

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