Wenn Kinder mit einer neuen Sprache in intensiven Kontakt kommen – etwa durch den Eintritt in den Kindergarten oder nach einem Umzug ins Ausland – kann es durchaus vorkommen, dass sie in diesem neuen sprachlichen Kontext zunächst überhaupt nicht sprechen. Ob und wie lange diese Phase anhält, hängt von der Persönlichkeit des Kindes, seinem Alter und weiteren Rahmenbedingungen ab. Doch wann wird aus einer Schweigphase ein Anlass zur Sorge? Wie lässt sich eine „normale“, vorübergehende Schweigphase von selektivem Mutismus unterscheiden?
In ihrem Gastbeitrag erklärt NiloufarJamali, Spezialisitin im Gebiet Selektiver Mutismus, was selektiver Mutismus ist, welche Anzeichen darauf hindeuten und wie Eltern, pädagogische Fachkräfte sowie Lehrkräfte damit umgehen können und sollten.
Viel Freude beim Lesen!
Dr. Adeline Hurmaci
Selektiver Mutismus ist eine klassifizierte Angst- und Kommunkationsstörung und beschreibt die Schwierigkeit in bestimmten Situationen und/oder mit bestimmten Personen zu sprechen. Mit dem selektiven Mutismus soll deutlich gemacht werden, dass das Schweigen nicht freiwillig erfolgt. Vielmehr bezieht sich die Bezeichnung „selektiv“ auf die Situation und den Personenkreis, in dem das Schweigen stattfindet. Meist fällt der Mutismus im Kindergartenalter auf. Aber auch Jugendliche u. Erwachsene können an Mutismus leiden, wenn dieser nicht behandelt wurde.
Bei der Entstehung eines Mutismus geht man von einem multifaktoriellen Bedingungsgefüge aus. Aktuelle Erklärungsmodelle ziehen folgendes in Betracht:
Selektiver Mutismus wird auch häufig von weiteren eigenständigen Krankheitsbildern begleitet, wie z.B. durch:
Wichtig zu betonen ist, dass das mutistische Verhalten nicht mit Absicht erfolgt und auch nicht persönlich oder als Verweigerung gesehen werden sollte. Die Betroffenen haben meist einen hohen Leidensdruck.
Weitere typische Beobachtungskriterien:
Das Bild des Mutismus kann facettenreich sein. So können einige nonverbale Mittel einsetzen, wie z.B. Nicken, Kopfschütteln, anderen wiederum ist dies nicht möglich, da sie sehr versteift sein können in ihrer Körperhaltung. Die Symptomatik kann beim einzelnen Betroffenen variieren. Neben dem Kardinalsymptom in Form des Schweigens: Das Gefühl des Verlassenseins, der Hilflosigkeit, der Gehemmtheit, der Scham, der Minderwertigkeit und der kommunikativen Überforderung können diese Situationen bedingen. Des Weiteren ist das gesamte Ausdrucksverhalten selektiv mutistischer Kinder stark beeinträchtigt. Wenn ihr Nichtsprechen thematisiert wird oder sie darauf angesprochen werden, ist ihr Blick meist gesenkt, ihr Körper oft vom Gesprächspartner abgewandt und ihre Körperhaltung und Mimik erstarren (freezing). Es fehlen den Kindern auch häufig lautliche Äußerungen wie z.B. beim Lachen, Weinen, Husten und sie geben z.T. auch keine Schmerzlaute von sich.
Wichtig ist zu erwähnen, dass Mutismus zu den überwindbaren Störungsbildern gehört. Je früher er erkannt und spezifisch therapiert wird, desto besser sind die Prognosen. Denn unbehandelt können sich komorbide Störungen entwickeln.
Eine Aufklärung über den Mutismus ist sehr bedeutsam, denn noch immer herrscht viel Missverständnis und Unkenntnis darüber. Es hilft so vielen Familien und Betroffenen, wenn sie wissen, was los ist und dass sie keine Schuld tragen. Eine spezifische Behandlung klärt auf und berät auch hinsichtlich der aufrechterhaltenden Faktoren (z.B. Sprachtherapie/ Logopädie). Die SRMT-Stuttgarter Rahmenempfehlungen zur Mutismus-Therapie beispielsweise ermöglicht Eltern, Betroffenen und Angehörigen eine Übersicht über Therapieempfehlungen einer Mutismus-behandlung. Eine Zusammenarbeit mit den Eltern, Erziehern/innen, Pädagogen/innen, Lehrkräften und anderen involvierten Personen ist essentiell. Eine mutismusspezifische Therapie kann auf Therapeutennetzwerken in Wohnortnähe (z.B. über Therapeutennetzwerke wie www.mutismus.de oder www.selektiver-mutismus.de) gefunden werden.
Mutistische Kinder begegnen dem Therapeuten oft mit ambivalenten Gefühlen, wie Vertrautheit und Fremdheit sowie Distanz und Nähe. Daher ist für diese Kinder ein aufbauendes, stabiles, strukturgebendes Vorgehen unerlässlich. Rituale und Markierungen von Übergängen und besonderen Leistungsabschnitten dienen dazu, Handlungsabfolge zu gliedern und vermitteln dem Kind Sicherheit, sodass das Gefühl der Willkürlichkeit der Maßnahmen verhindert wird.
Folgende Elemente sind u.a. in der Behandlung wichtig:
Zusätzlich bei bi- oder multilingualen Kindern wird geschaut, dass sich das Kind in der z.B. deutschen Sprache wohler fühlt. Mit entsprechenden sprachtherapeutischen Elementen wird die Interaktion in der Sprache gefördert. Die Deutschkenntnisse sollten soweit vorhanden sein, dass eine soziale Kommunikation erfolgen könnte. „Die Unfähigkeit zu sprechen ist nicht durch fehlende Kenntnisse der gesprochenen Sprache bedingt, die in der sozialen Situation benötigt wird oder dadurch, dass der Betroffene sich in dieser Sprache nicht wohlfühlt.“ (Saß et al. 1998)
Wenn z.B. ein Kind das erste Mal mit der deutschen Sprache in Berührung kommt, es nach und nach die Sprache lernt und weiterhin nicht interagiert, sollte genauer geschaut werden. Ein mehrsprachiges Kind kann nur in der Erstsprache (Muttersprache), nur in der Zweitsprache (Umgebungssprache) oder auch in beiden Sprachen schweigen. Wichtig zu betonen ist, dass das Bedingungsgefüge beleuchtet wird. Denn, wenn Kinder zu Beginn ihres Zweitspracherwerbs in der neuen Sprache nicht so schnell überall und mit allen sprechen, ist dies zunächst verständlich. Bleibt das Schweigen jedoch über ca. sechs Monate in der Sprache hinaus bestehen, kann das in Zusammenhang mit weiteren Faktoren auf einen selektiven Mutismus hindeuten (ansonsten gilt als eines der Diagnostikkriterien, dass das Schweigen mindestens einen Monat andauert und nicht auf den ersten Monat nach Kita-/Schuleintritt beschränkt ist, s.o.).
Auch sinnvoll ist, zu eruieren, ob sich die Eltern mit der Kultur und Sprache des Landes wohl fühlen. Hier kann ebenfalls Unterstützung erfolgen, um die Teilhabe bestmöglich gestalten zu können.
Die Studienlage, warum mehrsprachig aufwachsende Kinder eine viermal höhere Wahrscheinlichkeit von Mutismus haben, ist bislang nur wenig erforscht. Die Mehrsprachigkeit wird nicht als alleinige Ursache betrachtet. Hinweise der Vulnerabilität können sein:
Mir ist es eine Herzensangelegenheit für den Umgang mit dem selektiven Mutismus und für das Störungsbild zu sensibilisieren, damit es möglichst viele Menschen erreicht. Der selektive Mutismus kann überwunden werden. Mutismus muss kein Schicksal sein.
Hartmann, B. (Hrsg.) (2013): Gesichter des Schweigens. Die Systemische Mutismus-Therapie/ SYMUT als Therapiealternative. Idstein: Schulz-Kirchner Verlag.
Katz-Bernstein, N. (2019): Selektiver Mutismus bei Kindern. Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie. München: Ernst Reinhardt.
Saß, H.; Wittchen, H.U.; Zaudig, M. (1998): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychiatrischer Störungen. Göttingen: Hogrefe, 154-156.
Starke, Anja (2014): Selektiver Mutismus bei mehrsprachigen Kindern – Eine Längsschnittstudie zum Einfluss kindlicher Ängste, Sprachkompetenzen und elterlicher Akkulturation auf die Entwicklung des Schweigens. Dissertation.
Autorin:
Niloufar Jamali,
Rehabilitationspädagogin (BA, Universität Dortmund)
Akademische Sprachtherapeutin
Mutismusdozentin
wingwave®-Coach
Reflexintegrationstrainerin gem. RIT
Fachberaterin für Hochsensibilität
Website und Kontakt: https://www.winmut.de/
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